Freitag, 28. März 2014

Heimatbesuch


Teil 2: „Flying with the best“

„Thank you for flying with the best“ hieß es auf dem Hinflug – der Gewinn irgendeines Preises gleich fünfmal in Folge veranlasste Etihad Airways zu dieser Feststellung. Auf dem Rückweg fragte ich mich allerdings: Die Besten worin? Im Verspäten von Flügen? In Ineffizienz und Inkompetenz am Schalter?
Neu-Delhi, 8. März, 06:30 Uhr: Endlich heben wir ab, über 2 Stunden später als geplant. Entsprechend verspätete Ankunft in Abu Dhabi. Als ich auf den Monitor im Flughafengebäude schaue, ist mein Anschlussflug schon verschwunden. Was beginnt, ist eine siebenstündige Odyssee. Sieben Stunden Anstehen in der Schlange am transfer desk. Sieben Stunden Warten. Sieben quälende Stunden.
Nach rund sechs Stunden bin ich endlich am Schalter angelangt. Gebe dem gepflegten jungen Mann im Anzug mein Ticket. Ja genau, mein Ticket – nicht meinen Boarding Pass. Den hatte man mir nicht ausgehändigt in Delhi. Ich sollte ihn mir in Abu Dhabi am transfer desk holen. Wie das funktioniert hätte, wenn ich meinen Anschlussflug noch hätte bekommen können – das hätte ich die junge Dame im Nachhinein gerne gefragt. Es blieb Spekulation.
Die meiste Zeit waren die Schalter am transfer desk sowieso nicht besetzt. Die Anzugträger liefen ständig hin und her, es wirkte sehr geschäftig – oder ineffektiv und inkompetent, je nach Betrachtungsweise. Der junge Mann nahm mein Ticket und verschwand. Als er wieder kam, hatte er es immer noch in der Hand. Er beschäftigte sich jedoch offensichtlich mit anderen Fällen als meinem.
Einer davon war der des alten Pakistani, der mit fünf Leuten nach Lahore wollte. „Setzen Sie sich doch, Sir. Ich komme zu Ihnen, sobald ich Ihren Fall bearbeitet habe“, bot ihm der junge Anzugträger an. Der Alte schüttelte nur müde den Kopf. Er ließ sich nicht abwimmeln. Nach Lahore wollte er also. „Man hat sie aber auf Islamabad gebucht.“ – „Ich will aber nach Lahore.“ Schweigen, Tippen am Computer. Dann: „Sie müssen nach Islamabad fliegen. Von dort stellen wir Ihnen einen Transport nach Lahore zur Verfügung.“ Wie gnädig. Die grobe Richtung stimmt ja: Lahore oder Islamabad - Hauptsache Afghanistan.
Mir reichte es inzwischen. Wie es um meinen Fall stehe, fragte ich. „Da gibt es ein Problem.“ Welches Problem genau, wurde mir zwar auch auf Nachfragen hin nicht gesagt, es war aber offensichtlich die Tatsache, dass der Rückflug nach Düsseldorf mit Air Berlin gewesen wäre. Ständig versuchten die Anzugträger vergebens, das Büro von Air Berlin zu erreichen. Man kann ja beim „Premium Kooperationspartner“ auch nicht erwarten, zügig durchgestellt zu werden. Mein Freund hatte das Vorhaben offensichtlich aufgegeben. Er warte auf einen Rückruf, ließ er mich wissen. Gute Idee, die bei Air Berlin werden sicherlich bei nächstbester Gelegenheit zurückrufen! Als ich ziemlich ungehalten wurde, klemmte er sich wieder ans Telefon. Mit Erfolg. Kurz danach richtete er sich an mich: „Ist ein Flug über Istanbul okay?“ Natürlich, was denken sie denn, Hauptsache ich komme endlich nach Hause. „Ja.“
Kurz danach bekam ich mein Ticket: „Sie fliegen um 03:40 Uhr mit Turkish Airlines. Holen Sie sich dort am Schalter Ihren Boarding Pass.“ Nur noch 12 Stunden in Abu Dhabi, sensationell! Essen, ein Hotelzimmer? Bekäme ich bei Turkish Airlines.
Der Schalter von Turkish Airlines war bis 23 Uhr geschlossen. Essen, ein Hotelzimmer? „Gehen Sie zum nächsten Schalter von Etihad Airways.“
Vor mir wieder Leute, die Ihre Flüge umbuchen. Mir reicht es: „Madame, ich warte seit 7 Stunden auf einen neuen Flug, wurde anschließend von einem Ort zum nächsten geschickt. Das einzige was ich brauche, ist eine Quittung für’s Hotel.“  Fünf Minuten später hatte ich sie.
Anschließend: Dreiviertelstündiger Transfer zum Hotel, sieben Stunden Ausruhen inklusive Abendessen im 15. Stock. Der gleiche Inder, der mich auf dem Hinweg chauffiert hatte, fuhr mich zurück zum Flughafen. Smarter Typ mit Sonnenbrille und Hemd. In Delhi  hätte ich ihn für einen Geschäftsmann gehalten. In Abu Dhabi war er Fahrer für Etihad.
Ausreise aus den Vereinigten Arabischen Emiraten und Check-In am Flughafen. Mein Gepäck war mir in der Zwischenzeit eingefallen. Ich schilderte dem Kerl am Check-In meinen Fall. Er telefonierte einige Minuten. Dann, an mich gerichtet: „Würden Sie auch ohne Ihr Gepäck fliegen?“ Nein, auf gar keinen Fall! Ich will unbedingt noch länger auf diesem wunderbaren Flughafen oder in dieser herrlichen Wüstenstadt mit Wolkenkratzer ausharren. „Ja, natürlich.“ – „Sie erfahren beim Boarding, ob ihr Gepäck gefunden wurde.“ Wurde es nicht, beim Betreten des Flugzeuges erfuhr ich, dass mein Gepäck nicht mit im Flieger war.
Es folgte ein turbulenter Flug nach Istanbul. Neben mir kippte der Stewardess fast das Essen vom Wagen, als das Flugzeug kurz absackte.
Ankunft in Düsseldorf am 9. März um 10:30 Ortszeit, über 21 Stunden später als geplant. Ich ging, um mein Gepäck vermisst zu melden. Wurde aufgefordert, zuerst bei unzähligen Koffern, alle mit Flugnummern beginnend mit „EY“ (für Etihad Airways), nachzuschauen, ob meine Gepäckstücke dabei waren. Waren sie, versehen mit der Aufschrift „Quick Baggage Transfer“.

Und plötzlich so etwas wie eine Erleuchtung. „Thank you for flying with the best.“  Fast ganz ohne Spott, sogar mit einem Hauch von Dankbarkeit frage ich mich: Etihad Airways – die besten im schnellen Gepäcktransfer?

Dienstag, 25. März 2014

Heimatbesuch


Teil 1: Charmantes Delhi, entspanntes Rishikesh, wunderbares Rajasthan - und zwischendurch ein unvergesslicher Schulausflug

Die Dame am immigration counter sagt etwas auf Hindi und grinst. Es ist irgendwann am frühen Morgen, ich bin seit einer gefühlten Ewigkeit wach und todmüde. Ich schaue sie verständnislos an. Ich verfluche in diesem Moment meine stark ausbaufähigen Hindikenntnisse und mein Zustand erlaubt es mir nicht einmal, zu bluffen. Ich gebe mich geschlagen. Sie dreht sich zu ihrem Kollegen, sagt etwas zu ihm. Beide lachen. Dann habe ich endlich meinen abgestempelten Reisepass.
Als ich wenig später aus dem Flughafen trete, wird mir schlagartig bewusst: Ich bin zurück. Es ist ungemütlich kalt, anders als im September 2012, da lief mir noch der Schweiß von der Stirn. Aber der Geruch, der in meine Nase steigt, dieser unbeschreibliche Geruch mit Wiedererkennungswert, er lässt alle Zweifel verfliegen: Delhi, hier bin ich!

Zurück am Rajiv Chowk zur Rush Hour. Und wieder
heißt es: Mittendrin statt nur dabei.

Zurück in dieser Millionenmetropole, die scheinbar so gar nichts zu bieten hat. Um Delhis speziellen Charme zu ergründen, muss man hier länger wohnen. Dann erkennt man, dass diese Stadt so viele besondere Orte hat, wunderbare und weniger wunderbare. Mit vielen verbinde ich ein Stück Heimat. Die Metro ist zu den Stoßzeiten immer noch ähnlich stark bevölkert wie eine Hähnchenmastanlage, im Straßenverkehr ist der Sportliche weiterhin klar im Vorteil. Delhis Charme ist versteckt, die Stadt ist in ihrer Hässlichkeit schön.
Viel Zeit der knapp 3 Wochen verbringe ich damit, Freunde zu treffen, meine alte Gastfamilie zu besuchen und Zeit in der Schule zu verbringen. Es ist herrlich zurückzukommen, ganz ohne Zwang, ganz ohne Verpflichtungen. Ich kann mittags zu meiner alten Arbeit gehen, ohne mich rechtfertigen zu müssen. Ich muss gar nichts machen. Aber ich kann, wenn ich will.
Zusammen mit meinen beiden Nachfolgern Clemens und Jonathan und acht älteren Schülern fahren wir nach Agra. Zum Taj Mahal, einem der sieben modernen Weltwunder, dem Wahrzeichen Indiens. Fast wäre der Trip in letzter Sekunde geplatzt, weil am Tag vorher die Kathputli Colony, der Slum, aus dem meine Schüler kommen geräumt werden, geräumt werden sollte (s. vorheriger Eintrag). Die Bewohner können es verhindern, wir müssen den Ausflug nicht absagen. Frühmorgens geht es los, in der General Class. Billigste Klasse, wenig Platz. Wir nehmen vorlieb mit der Gepäckablage. In den folgenden 3 Stunden bis Agra verwandeln die Schüler unser Abteil in ein Tollhaus. In Deutschland wären wir hochkant aus dem Zug geflogen, hier nicht. Wir sind die Attraktion des Zuges. Drei Weiße mit 8 aufgedrehten Heranwachsenden.
Kurz danach sehen Harish, Pawan, Kishan, Sanjay, Ajay, Arjun, Deepak und Ram dann das erste Mal in ihrem Leben das Taj. Die Kameras laufen auf Hochtouren, ich merkte einmal mehr, dass ich einen Job als Fotomodel nur im äußersten Notfall annehmen würde. Wir haben Mühe, die Schüler zum Bahnhof zu bekommen. Das Taj hat sie in seinen Bann gezogen. Das sollte sich noch rächen.
Angekommen am Bahnhof bleibt uns nicht genügend Zeit, um uns in der langen Schlange vor dem Ticketschalter anzustellen. Wir beschließen, so in die General Class zu gehen. Hoffen, dort Tickets nachlösen zu können.
Als wir am Gleis ankommen ist ein Besteigen der General Class auf beiden Seiten des Zuges hoffnungslos. Die Menschen lachen uns aus den Türen heraus hängend an, mit einer Hand halten sie sich am Zug fest.
Es ist 16 Uhr, die Schüler müssen nach Hause. Was machen wir? Wird die Situation im nächsten Zug anders sein? Wohl kaum! Wir greifen zum äußersten Mittel, steigen ohne Fahrscheine in die Sleeper Class, den günstigsten Schlafwagen.
Nette Mitfahrer überlassen uns einige der oberen Liegen, auf denen wir es uns anschließend so bequem wie möglich machen. Einige der Schüler haben Panik, hatten uns versucht, davon abzuhalten, ohne Tickets in den Zug zu steigen. Jetzt fahren wir.
Plötzlich sehe ich einen Kontrolleur. Er verschwindet, taucht nicht wieder auf. Ich drehe mich um und erschrecke: Im Abteil neben uns steht ein weiterer Kontrolleur. Die Schüler stellen sich schlafend. Clemens, Jonathan und ich treffen uns zur Krisensitzung. Diskutieren die Strategie, ergebnislos.
Der Kontrolleur kommt auf mich zu – und geht an mir vorbei. Kishan, der gegenüber von mir sitzt, öffnet die Augen, grinst und bietet mir die Hand zum Einschlagen an. Ich traue dem Braten nicht. Der Kontrolleur wechselt ein kurzes Wort mit einem anderen Passagier, dreht sich um und kommt direkt auf mich zu: „Ticket!“ Langsam nehme ich meine Tasche, um auf Zeit zu spielen. Da lässt Clemens die Bombe platzen. Wir hatten gehofft verhandeln zu können. Stattdessen zeigt sich der Kontrolleur erbarmungslos. Wir müssen 385 Rupien pro Person bezahlen, bekommen aber dafür immerhin ein gültiges Ticket bis Delhi. Rund 50 Euro zahlen wir letztlich für 11 Personen, aus deutscher Sicht lächerlich, aus indischer Sicht happig. Kishans Kommentar, als der Kontrolleur weg ist: „Jetzt will ich aber eine eigene Liege haben, schließlich haben wir jetzt so viel bezahlt.“
Sein Wunsch blieb unerfüllt. Aber wir kamen pünktlich in Delhi an, mit 8 erschöpften Jungs. Auf dem Weg zur Metro meinte Pawan: „Diesen Tag werde ich nie vergessen.“ Warum, ließ er offen. Sein schelmisches Grinsen sprach indes Bände.

Geht es auf einen Schulausflug, machen sich die
Schüler immer besonders schick. Hier Pawan und
Kishan...

...dort Harish und Sanjay.

Ajay (Mitte) hat das Potenzial zum Comedian...

...genauso wie zum höchst seriösen Touristenführer.

Und dann hieß es: Bye, bye, Taj Mahal!

Am nächsten Tag holte die Schüler der Alltag wieder ein.

An einem meiner letzten Tage hatte Rohit Geburtstag...

...und bekam den obligatorischen
Geburtstagskuchen ins Gesicht geschmiert.

Am Wochenende vor unserem Agra-Trip war ich bereits im spirituellen Yoga-Ort Rishikesh am Ganges gewesen.





Am Wochenende nach dem Schulausflug fuhr ich zusammen mit acht der neuen deutschen Freiwilligen nach Jaisalmer.
17 Stunden Zugfahrt in eine Stadt in der Wüste Thar, nicht weit entfernt von Pakistan. Häuser und eine Festung aus Sandstein, herrlicher Sonnenschein. Am Samstagmorgen brachen wir auf zu einer Kamelsafari durch die Wüste, wie mit Hosen wie Aladin in 1001 Nacht und mit einem Lagerfeuer am Abend unter Sternenhimmel.

Angekommen am Bahnhof...

...wurden wir gleich von Fahrern begrüßt, die uns
sofort in ihr Hotel lotsen wollten.

Vorbereitung auf die Kamel-Safari: Beim Kauf der
"Ali-Baba-Hosen"

Die Häuser sind alle aus Sandstein gebaut.

So natürlich auch die Festung.




Start in die Wüste







Auf dem Rückweg entschloss ich mich spontan, in Jodhpur auszusteigen und noch einen Tag in der „blauen Stadt“ zu verbringen. Diesen Namen verdankt die Stadt mit einer tollen Burganlage der Tatsache, dass viele Häuser mit blauer Farbe angestrichen sind. Durch das geschäftige für indische Verhältnisse mittelgroße Jodhpur lohnte es sich auch einfach zu schlendern und die an der 30-Grad-Marke kratzenden Temperaturen zu genießen.

Blick auf die Burg








Der Uhrenturm der Stadt.

Abschied von der Burg am Abend.

Auch Delhi ist gerade dabei sich aufzuheizen, die Temperaturen steigen fast unaufhörlich, bis sie Anfang Mai dann die 45-Grad-Grenze knacken dürften. Ich erlebte die Stadt zu ihrer wohl schönsten Jahreszeit.
Während meines Aufenthalts konnte ich fast vergessen, dass ich von Indien, aber insbesondere Delhi, im August letzten Jahres genug hatte. Ohne jeglichen Stress  lässt sich der Lärm und das Chaos noch besser ertragen – vorausgesetzt, man ist ihn gewohnt und kann die hupenden Autos und aufdringlichen Verkäufer oder Rikshaw-Fahrer mit einem gelassenen Lächeln hinnehmen. Einzelne Orte, mögen sie aus objektiver Sicht auch überhaupt nicht schön sein, rufen Erinnerungen hervor oder verkörpern einfach ein Stück Heimat.
Ein Stück Heimat, dass sich in den nächsten Jahren teilweise rasant verändern dürfte. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Kalakar Vikas School bei meinem nächsten Besuch noch neben der (alten) Kathputli Colony besuchen werde, tendiert gen Null. Umso schöner war es, alles noch einmal zu sehen.

Symbol der Gegensätze: Die Pacific Mall von innen...

...und außen.


Eines ist sicher: Es war nicht mein letzter Besuch in Delhi und in Indien. Wann der nächste ist, steht noch in den Sternen. Die Sterne sagen aber: Es wird nicht ewig dauern. Zu lange kann ich nicht abstinent bleiben.

Sonntag, 16. März 2014

Angst vor den Bulldozern

                                           
Alles war wie vor einem halben Jahr, als ich zur Kalakar Vikas School ging, der Schule am Rande der Kathputli Colony, in der ich während meines Freiwilligendienstes im letzten Jahr gearbeitet habe. Als ich mich am Freitagnachmittag verabschiedete, war immer noch fast alles wie vorher. Lediglich die Polizisten am Eingang der Kathputli Colony, dem Künsterslum aus dem meine ehemaligen Schüler kommen, deuteten darauf hin, dass es beim nächsten Mal, wenn ich komme, wohl ganz anders aussehen wird.
Stehen dann Malls da, wo im Moment noch kleine Jungen und Mädchen Murmeln spielen? Stehen wirklich Sozialwohnungen da, wo im Moment noch Hütten stehen?
Schon während meines Aufenthaltes hieß es, die Colony müsse geräumt werden. Seit Jahren geht das so. Konkret wurde es nie. Bis vor einigen Wochen.
Der Hintergrund: Raheja Builders, ein familiengeführtes, milliardenschweres Bauunternehmen hat das zentral gelegen Land in West-Delhi, auf dem die Puppenspieler, Trommler, Akrobaten, Tänzer und all die anderen Künstler ihre Colony errichtet haben, aufgekauft. Die Lage im Westen Delhis nahe des Connaught Place und des Diplomatenviertels – sprich: des modernen Delhis – macht das Land so attraktiv. Auf einem Großteil der Fläche sollen Shoppingzentren für die Reichen entstehen, ein kleiner Teil ist vorgesehen, um Hochhäuser mit Wohnungen zu errichten. In die sollen später die Künstlerfamilien einziehen. Das hat man ihnen zumindest versprochen. Dass weder Raheja Builders noch die Delhi Development Authority (DDA) den Familien eine schriftliche Garantie hierfür gegeben hat, schürt das Misstrauen unter den Familien. Sie sollen, so verspricht es die DDA, für zwei Jahre in ein Übergangscamp ziehen und anschließend die Wohnungen beziehen.
Die Familien indes befürchten, dass sie nicht zurückkehren können, sobald sie einmal gegangen sind. Außerdem werden nur Wohnungen für 2800 Familien gebaut, in der Colony leben jedoch 3500. Die Wohnungen seien ferner zu klein für die Großfamilien, lautet ein weiteres Argument, für ihre künstlerischen Aktivitäten, mit denen sie ihren Lebensunterhalt verdienen, sei der Platz ebenso wenig ausreichend.
Die DDA und Raheja Builders haben sich von diesen Argumenten bislang nicht entscheidend überzeugen lassen. Immerhin konnten die Künstler einen Aufschub erwirken, vor April müssen sie nicht umziehen. Für den 11. März war ein Gerichtstermin angesetzt, der jedoch auf die nächste Woche verschoben wurde. Ein Erfolg der Künstler wäre vor dem Hintergrund des indischen Justizsystems, in dem Geld und Macht leider oftmals die entscheidende Rolle spielen, allerdings eine Sensation.
Alle Bewohner der Colony, die im Shadipur Depot liegt, müssen sich vor dem Umzug in das Übergangscamp registrieren lassen, daher patroullieren seit über 2 Wochen Polizisten am Eingang der Colony. Einige Familien sind bereits umgezogen, auf einem riesigen Plakat war ein Zeitungsartikel abgedruckt, in dem bereits umgezogene Familien berichten, wie gut es ihnen im neuen Zuhause gefalle. Als ich ihn darauf anspreche, mein Ajay, einer der älteren Schüler in meinem Alter: „Das ist ein Fake.“ Tatsächlich wirkt es wie ziemlich plumpe Propaganda, zumal daneben Fotos abgebildet sind, die die späteren Wohnungen zeigen sollen. Wer glaubt, dass die Künstler in solche Wohnungen einziehen werden, dass sie es sich überhaupt leisten können, kennt entweder nicht die Realität oder ist hochgradig naiv. Die abgebildeten Wohnungen gleichen guten Hotelzimmern in Delhi, selbst die Mittelschicht würde sich ein solches Heim wohl kaum leisten können.
Man kann sich natürlich fragen, warum die Menschen lieber in der Kathputli Colony, dem Slum ohne eigenes Badezimmer, ohne funktionierende Kanalisation und mit Hütten auf engstem Raum, bleiben möchten. Es erscheint nahe liegend, die Baupläne der Unternehmer gutzuheißen, nach dem Motto: Willst du etwa einen Slum erhalten?
Es wäre absurd, zu behaupten, die Künstler würden sich gegen bessere Lebensbedingungen weigern. Darum geht es nicht. Rahul, 19, sagte einmal zu mir: „Ich kann hier keine Freunde hin nehmen, es ist zu dreckig.“ Und auch die jüngeren Schüler beklagten sich gegenüber der ehemaligen Englischlehrerin Priyanka manchmal, sie könnten sich zuhause nicht auf das Lernen konzentrieren.
Es geht vielmehr darum, dass die Gefahr besteht, dass es den Familien schlechter geht, sobald sie einmal die Colony geräumt haben. Dass sie im Zeltlager bleiben müssen, während die Oberschicht im Shadipur Depot Subway-Sandwiches isst.
Die Sorgen der Bewohner wurden nicht gehört. Sie wurden nicht mit einbezogen in die Planungen, was mit dem Land geschehen soll. Obwohl ihnen der ehemalige indische Premierminister Rajiv Gandhi einst versprochen hatte, sie könnten für immer in der Kathputli Colony dort leben, müssen sie nun umziehen, ohne dass man ihnen angemessene Alternativen bietet. Gerne nimmt man sie wie Gandhi mit auf Staatsbesuche in die USA zu Ronald Reagan, um die Traditionen Indiens zu präsentieren. Doch wenn sie dem Modernisierungswahn im Weg stehen, müssen sie weichen.
Indien wächst weiterhin rasant, ohne dabei grundlegende Probleme zu lösen. Auf dem Weg in die Zukunft müssen alle mitgenommen werden, sonst wird der Subkontinent irgendwann an seinen ungelösten Problemen scheitern.
Es wäre zu einfach, beim Kampf der Künstler gegen die DDA und Raheja Builders vom Kampf der Tradition gegen die Moderne zu sprechen. Zwar verdienen die Bewohner der Colony ihr Geld weiterhin mit Puppenspiel, Tanz und traditionellem Trommeln, wie es ihre jahrhundertealte Tradition ist. Aber die meisten besitzen auch Handys, Fernseher und haben einen Facebook-Account. Auch sie träumen von einem besseren Leben, wie es ihnen in Bollywood-Filmen gezeigt wird. Und genau deswegen, weil nicht wenige der Künstler auch Wert auf die Bildung und Zukunft ihrer Kinder legen, lehnen sie sich auf gegen die Räumung der Kathputli Colony.
Wenn in Delhi weiterhin luxuriöse Einkaufszentren die Armen aus den Stadtzentren verdrängen, verdrängen sie doch nicht das Problem. Das Problem, dass ein Großteil der indischen Bevölkerung andere Sorgen hat als die Frage, ob es den Anschlussflug zum Geschäftsmeeting in Frankfurt trotz der Verspätung noch erreicht.
Irgendwo im Kleingedruckten taucht dann auch noch die Frage auf, wie es eine Kultur mit Tradition und Moderne hält. Doch diese Frage ist eine grundsätzliche, sie beschränkt sich nicht auf die Kathputli Colony und auch nicht auf Indien.
Die für ihre Bewohner existenzielle Frage, was aus der Kathputli Colony wird, beschäftigt mich, als ich am Freitag in Richtung Flughafen fahre. Die Zeichen stehen auf Räumung. Bislang wehrt sich die Mehrzahl der Bewohner gegen einen Umzug.
Wie lange werden sie Erfolg haben können? Was passiert, wenn sie sich weiterhin weigern, umzuziehen, trotz eines möglichen Gerichtsurteiles?
Kommen dann die Bulldozer?


Einen gute Beschreibung der Lage der Kathputli Colony liefert auch „The Australian“:


Eine Petition wurde ins Leben gerufen, um die Forderung der Bewohner nach Transparenz, dem Rückzug der Polizei und ihrem Recht zur Mitbestimmung zu untermauern:


BITTE UNTERSCHREIBT UND ZEIGT SOLIDARITÄT MIT DEN KÜNSTLERN AUS DER KATHPUTLI COLONY!

Eindrücke vom Anmarschieren der Polizisten und den Protesten in der Colony:










Montag, 18. November 2013

"Geschichten & Bilder aus Indien"

 Für alle Interessierten halte ich am Freitag, 22. November, ab 19.30 im Gemeindezentrum "Schwedenheim" der evangelischen Kirche in Cloppenburg einen Vortrag über mein Jahr in Indien und zeige natürlich auch jede Menge Fotos - ich verspreche, dass es auch neue Fotos sein werden, die auf meinem Blog noch nicht zu sehen waren.
Mit diesem Abend möchte ich mich auch noch einmal insbesondere bei allen SpenderInnen, die mich und mein Projekt in Delhi unterstützt haben, bedanken. Sie sind natürlich ganz besonders herzlich eingeladen!

Der dazu in der Nordwest Zeitung veröffentlichte Text:

Unter dem Motto „Geschichten und Bilder aus Indien“ wird der Cloppenburger Benjamin Scholz am Freitag, 22. November, ab 19.30 Uhr einen Vortrag im Gemeindezentrum „Schwedenheim“ der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Cloppenburg halten.
Scholz hatte nach seinem Abitur am Clemens-August-Gymnasium (CAG) im vergangenen Jahr einen einjährigen Internationalen Jugendfreiwilligendienst (IJFD) in einer Schule für sozial benachteiligte Kinder in Delhi/Indien absolviert. „Ich möchte den Abend nutzen, um von meinen vielen prägenden Erfahrungen zu berichten“, so der 19-jährige. „Gleichzeitig möchte ich mich bei der Gemeinde für die hohe Spendenbereitschaft während meines Freiwilligendienstes bedanken.“

Quelle: http://www.nwzonline.de/cloppenburg-kreis/1000-euro-fuer-guten-zweck_a_9,4,2298399776.html

Montag, 23. September 2013

Was nach einem Jahr Indien bleibt


Ein Monat ist nichts im Vergleich zu einem Jahr. Seit einem Monat bin ich erst wieder hier in Deutschland – und doch kommt mir Indien und meine Zeit dort plötzlich so weit weg vor. Nach dem ersten Kulturschock im heimischen Deutschland habe ich mich aber schnell wieder an das Leben hier gewöhnt. 18 Jahre meines Lebens haben mich eben doch nicht unwesentlich geprägt.
Sehr bald hatte ich mich wieder daran gewöhnt, wie die Menschen hier ticken: Völlig anders als in Indien. Das eine muss nicht besser als das andere sein, der Unterschied ist aber frappierend. Um dies festzustellen, musste ich erst zurückkehren, nach meiner Ankunft in Indien war es mir nicht so offensichtlich geworden. Schnell bin ich wieder in meine alte Rolle geschlüpft, als einer von vielen.
Die Aufmerksamkeit, die ich als Weißer in Indien automatisch zuteil bekam, war plötzlich verschwunden. Oft hat mich das „Besonders-Sein“ genervt, aber es war zur Gewohnheit geworden. Und in der einen oder anderen Situation habe ich die daraus resultierenden Vorteile auch gerne ausgenutzt.
Bereits am Flughafen in Düsseldorf, als ich umringt von Weißen auf mein Gepäck wartete, hatte ich ein komisches Gefühl. Lediglich die indische Familie neben mir, die auf Hindi sprach, während sie auf ihren gesamten Hausrat (die Masse des Gepäcks ließ zumindest darauf schließen) wartete, gab mir ein Stück Heimat zurück. Heimat? Ja, Heimat! Denn Indien ist über das Jahr hinweg meine zweite Heimat geworden. Im Nachhinein erinnere ich mich jetzt natürlich weniger an die nervigen Rikscha-Fahrer, die Hitze und die starrenden Inder, sondern mehr an die gute Küche, tolle Landschaften und nette und warmherzige Menschen. Das ist das Schöne an Erinnerungen: Im Rückblick malt man sich Vieles in rosaroten Farben.
Nur den Lärm, den vermisse ich kaum. In Delhi war es schwer, mal wirklich zur Ruhe zu kommen, in Cloppenburg ist es nun eher das Gegenteil. Schon auf der Autobahn aus Düsseldorf war es ungewohnt ruhig – nicht zuletzt, weil die Hupe in Deutschland seltener benutzt wird. Auf den Straßen – selbst in den sogenannten Großstädten wie Hannover – ist kaum etwas los. Das ist zunächst natürlich ungewohnt, aber kein Nachteil.
Ich schäme mich auch nicht für meinen Wohlstand, nur weil ich ein Jahr mit sehr armen Menschen fast täglich Kontakt hatte und über Facebook immer noch mit ihnen in Kontakt stehe. Genauso, wie ich in Indien auch öfters von meinem vollen Geldbeutel (im übertragenen Sinne) Gebrauch gemacht habe. Trotzdem kann ich und können wir von diesen Menschen meines Erachtens nach lernen. Wenn ich mitbekomme, wie sich Rentner in einer  Mietwohnung in einem Vorort von Hannover über spielende Kinder oder für ihren Geschmack zu lange hängende Wäsche ereifern, kann ich nur den Kopf schütteln. In Indien ist es die absolute Ausnahme, dass eine Familie keine Kinder hat – was zu den bekannten demographischen Problemen führt. Kinder sind dort in eigentlich jedem Haushalt zu finden, die Großfamilien wohnen unter einem Dach. Ich will nicht dafür eintreten, dass das deutsche Bevölkerungswachstum rasant in die Höhe schnellt, aber wenn Kinder hier wieder „normal“ wären und ungestört spielen können, wäre uns schon geholfen.
Absurd mutet für mich auch an, wie sehr manche deutsche Kinder hofiert werden. Die Kinderzimmer platzen vor den neuesten Spielzeugen und Konsolen, sodass die Kinder kaum noch aus ihnen heraus kommen. Andererseits gibt es in Cloppenburg in den Neubausiedlungen kaum noch frei zugängige Bolzplätze. Und wenn man auf der Straße spielt, dauert es vermutlich nicht lange, ehe sich der Nachbar belästigt fühlt.
In Kathputli Colony, dem Slum, aus dem meine ehemaligen Schüler kommen, ist es das komplette Gegenteil: Hier sind die Kinder ständig im Slum unterwegs und bekommen – wenn überhaupt – nur das Nötigste an Fürsorge. Dafür spielen sie mit Murmeln oder Cricket. Selten allein, häufig zusammen. So ein enges soziales Netz wie in dieser Gemeinschaft hat auch viele Nachteile, vor allem im Hinblick auf die Wahlfreiheit jedes einzelnen in Bezug auf seine oder ihre eigene Biographie.
Deshalb ist es mir wichtig, immer Vorteile zu sehen, durch die man lernen kann. Die Vorteile, die unsere Lebensart hier in Deutschland hat. Und die Vorteile die die Lebensart dieser Menschen hat. Es gibt weder schwarz, noch weiß. Wie wir leben, hängt viel mit unserer Geschichte, unserem Selbstverständnis, unserer finanziellen Situation zusammen. Gerade Letzteres sollte aber nicht zum alles bestimmenden Faktor werden. Ich möchte keinesfalls hier ein Plädoyer halten nach dem Motto: „Schaut nach Indien, mit welcher natürlichen Freude diese armen Menschen dort leben!“ Das ist mir zu platt. Einige Probleme, die wir uns hier in Deutschland durch unseren Wohlstand erst schaffen, können wir aber auch ganz einfach wieder begraben. Zum Beispiel der Zwang, dass für jedes Kind ein neuer Kinderwagen gekauft werden muss.
Das werde ich sicherlich aus meinem Jahr als Erkenntnis mitnehmen: Ich werde meinen Wohlstand ausnutzen, wo ich es für sinnvoll und nötig halte. Und wo es mir einen echten Gewinn bringt.
Bezogen auf Verhaltens- und Denkweisen suche ich mir das heraus, was mir besser gefällt. Es heißt immer, die sogenannten „Entwicklungsländer“ können nur von uns „Industrienationen“ lernen. Dabei ist die Wahrheit: Auch wir, die angeblich weit entwickelten Westeuropäer, können noch viel von anderen Nationen und Kulturen lernen. Oder müssen es vielleicht sogar.
Kurz vor meiner Rückkehr habe ich mich sehr auf Deutschland gefreut. Die Vorfreude war berechtigt. Deutschland wird immer meine Heimat werden. Was nicht heißt, dass ich nicht für einen längeren Zeitraum mal wieder in einem anderen, uns ganz fremd anmutenden Land heimisch werden kann. Mein bisheriges Leben und meine bisherigen Erfahrungen haben mir ermöglicht, ganz einfach wieder in Deutschland anzukommen. Es war nur ein kurzer Kulturschock. Ein Kulturschock 2.0, ich musste mich erst wieder an das Gewohnte gewöhnen. Das ging ziemlich schnell. Denn viele Werte unserer Gesellschaft habe ich die ganze Zeit über weiter in mir getragen.

Überhaupt wird gerne über Werte gesprochen. Werte, die eine Gesellschaft, eine Kultur auszeichnen. Vom Wert des Geldes ist dabei nicht so oft die Rede. Dabei ist er es eigentlich, der in unserer und auch in der aufstrebenden indischen Gesellschaft eine immer wichtigere Rolle spielt. Lasst uns doch mal wieder einen stärkeren Fokus auf die anderen Werte legen!

Freitag, 23. August 2013

Der letzte Tag


Es ist soweit, in weniger als zwölf Stunden sitze ich schon im Flugzeug nach Dubai. Ein echtes Wechselbad der Gefühle, dieses Abschiednehmen und Ankommen, kann ich euch sagen!
Trotzdem: An dieser Stelle ein großes DANKESCHÖN für’s Lesen dieses Blogs und das (oftmals positive) Feedback. Ich werde eventuell noch einen Eintrag über das Ankommen in Deutschland schreiben, aber das kann etwas dauern. Auf jeden Fall freue ich mich, euch wiederzusehen!

Als kleine Belohnung für’s Lesen gibt es jetzt noch die Fotos von meinem letzten Tag bei „Kalakar Trust“:

Shekhu und Raunak, meine zwei Spezialisten.

Wenn ich kurz davor war, umzufallen, haben mich die Kinder
immer wieder aufgefangen...

Meine jüngeren Englischschüler

Sachin und Rinku im "Yo-Yo-Honey-Singh"-Style
(indischer Rapper)

Noch mal die Englischschüler.

Rohan spielt "Baby".

Meine Englisch- und Gitarrenschüler zusammen mit meiner
ehemaligen Kollegin Priyanka.

Ram ist älter... und stärker als ich.

Ritick, beta (Hindi für: "Sohn") - eine gängige Formel
hier.

Meine ganz besondere Erinnerung an die
Kalakar (Künstler): Meine selbst gemachte
Holzpuppe

Ajays Abschiedsbrief - zusammen mit einer alten Holzkette
das schönste Geschenk seit langem - auch wenn ich bezweifle,
dass er es selbst geschrieben hat. ;)